Annette Katharina Hildebrandt

jetzt: Bibliographiemehr

An jeder Weiche steht ein Soldat

Vertrauliches aus der Wirtschaftskommission des Politbüros

Günter Mittag, oberster Wirtschaftslenker der DDR, rapportierte Ende 1986 in der Wirtschaftskommission des Politbüros der SED: „An jeder Weiche steht ein Soldat.“ Dies war aber nicht deshalb, weil ein Angriff des Klassenfeinds drohte, sondern weil einer der vier Hauptfeinde des „real existierenden Sozialismus“ wieder einmal zugeschlagen hatte: der Winter1. Tatsächlich war dieser 1986/87 besonders streng und die Nationale Volksarmee musste vor allem den Transport der Rohbraunkohle per Deutscher Reichsbahn gewährleisten, damit nicht — wie in Leipzig schon geschehen — im ganzen Land stundenweise Lichter und Öfen ausgingen. Solche und ähnliche „Vorkommnisse“ könnten aus den Protokollen der Wirtschaftskommission in großer Vielfalt zitiert werden, um die über die 40 Jahre ihrer Existenz hin permanent schwierige Situation der DDR–Wirtschaft zu illustrieren. Exemplarisch soll das im folgenden für die achtziger Jahre geschehen.

Deckblatt eines Protokolles der Wirtschaftskommission
O-Ton der DDR-Wirtschaftslenker:
in den Protokollen der Wirtschaftskommission

Die wirtschaftlichen Probleme wurden vor den Bürgern streng geheim gehalten, am Ende der DDR auch vor großen Teilen der Nomenklatura2, in bestimmten Fällen sogar vor dem Generalsekretär. Wäre es anders gewesen, würde heute niemand mehr behaupten, dieser Staat hätte gut funktioniert.

In den „streng vertraulichen“ und „persönlichen“ Niederschriften Heinz Klopfers über die Beratungen der Wirtschaftskommission des Politbüros kommen die Spitzenkader im O–Ton zu Wort. Enthalten sind auch Niederschriften über Beratungen im Politbüro, also unter Beteiligung von Erich Honecker, sowie über Beratungen in weiteren Gremien der SED-Führung.

Zur besseren Übersicht seien vor dem inhaltlichen Einstieg in das Thema einige Hinweise zu den drei wichtigsten Personen der DDR–Wirtschaftsführung gegeben3:

  • Heinz Klopfer (geb. 1919), Staatssekretär der staatlichen Plankommission, Ministerrats–Mitglied, Kandidat des ZK der SED
  • Gerhard Schürer (geb. 1921), Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und Vorsitzender der staatlichen Plankommission, Kandidat des SED–Politbüros
  • Günter Mittag (geb. 1926), Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden, Mitglied des SED–Politbüros, ZK–Sekretär für Wirtschaft

Die Macht dieser drei Nomenklaturkader leitete sich formal von der Vielfalt ihrer hochrangigen Funktionen ab, inhaltlich jedoch von dem eher unattraktiv klingenden Posten Günter Mittags als „Sekretär für Wirtschaft“. Mittag war denn auch der mächtigste unter ihnen und als Vorsitzender der Wirtschaftskommission bestimmte er über den Inhalt der Vorlagen, die schließlich zur Entscheidung auf Honeckers Tisch kamen. Damit nicht genug, verfügte Günter Mittag auch über die strukturellen Möglichkeiten, die wirtschaftspolitische Linie des Politbüros bis in den einzelnen volkseigenen Betrieb „durchzustellen“: Er hatte die Weisungsbefugnis gegenüber den Generaldirektoren der Kombinate, die in der Regel ebenfalls parteiergebene Nomenklaturkader waren.

Doch jede noch so umfassende Machtfülle findet ihre Grenze an der Stelle, wo Hybris beginnt, die Vernunft auszuschalten. Das Quellenmaterial (ca. 300 A4-Seiten mit knapp 50 Niederschriften vom 9. Mai 1984 bis 22. Dezember 1987) zeigt diese Entwicklung auf, nicht ohne sich uns an einigen Stellen in unfreiwilliger Komik zu präsentieren. Einige Fragen sollen hier exemplarisch gestellt, aus dem Material heraus beantwortet und mit Zitaten versehen werden.

Die Systemfrage

Die vom SED–Generalsekretär formulierte Hauptaufgabe aus Einheit von Wirtschafts– und Sozialpolitik samt „demokratischem“ Sozialismus und Planwirtschaft wurde nicht in Frage gestellt. Hier lagen — so wurde gelehrt — Gesetzmäßigkeiten vor, die weder durch den Gegenwind zunächst leichter noch später schwerster wirtschaftlicher Turbulenzen außer Kraft gesetzt werden konnten.

Die beschworene Einigkeit bekam zwar im Laufe der Zeit Risse; auch wurde mehr Flexibilität angemahnt, aber einen Richtungswechsel gab es nicht, Fragen wie: „Ist der Plan falsch?4 blieben rhetorisch bzw. wurden unverzüglich beantwortet: „Wer die Hauptaufgabe ändern will, soll das sagen. […] Wir müssen nach dem Plan arbeiten. Die Marktwirtschaft überlassen wir den Kapitalisten.5Eines ist klar: Wir brauchen keine neue Theorie für die Entwicklung der Planwirtschaft der DDR.6

Niemand wagte ein Widerwort, die Dokumente der Parteitage fungierten als eine Art Heilige Schrift: „Die Grundlage der Arbeit ist die Rede des Generalsekretärs, Genossen Erich Honecker, vor den ersten Kreissekretären vom 6.2.1987; und diese Fragen werden verwirklicht. Es ist gut, wenn jeder Genosse dies immer wieder zur Hand nimmt.“7

Das Motiv: Alles für das Volk?

Die Bevölkerung wurde von den Oberen fest im Blick behalten. Zum Teil aus ernst genommener, wenn auch ideologisch verordneter Fürsorgepflicht: „Wenn wir schon von ideologischer Arbeit reden, müssen wir dafür sorgen, dass überall ein richtiges Verhältnis zu den Menschen gesichert wird. Es gilt unsere Losung ‚Alles für das Volk!‘8

Zum Teil aus dem Wissen um die Unentbehrlichkeit der arbeitenden Bevölkerung: „Wie das Arbeitskräfteproblem hier dargestellt wird, müssen wir davon ausgehen, dass wir nicht mehr Arbeitskräfte haben, als vorhanden sind.9Es geht darum, dass wir zu viele Arbeitskräfte in den Verwaltungen haben. Es müssen Entscheidungen zugunsten der Produktion getroffen werden.10

Zum Teil zum Zwecke der Selbstbestätigung: „Es geht doch um die Initiative der Menschen. Ich habe Unterlagen vorliegen über die Beteiligung der Werktätigen an der Plandiskussion 1988. Teilgenommen haben 98,5% aller Arbeitskollektive. Insgesamt haben 6,1 Mio. Menschen an den Beratungen teilgenommen. Die Anzahl der Wortmeldungen beträgt 1,5 Millionen. Es wurden 646 000 Vorschläge unterbreitet, darunter 264 000 zur Leistungssteigerung, 82 000 zur Senkung der Material– und Energieökonomie, 180 000 zur Verbesserung der Arbeits– und Lebensbedingungen und 54 000 zur Verbesserung der Leitung, Planung und wirtschaftlichen Rechnungsführung.11Das ist doch ein pulsierendes Leben.12

Zum Teil aber auch — und das wird zuletzt immer deutlicher — aus Angst vor Unruhen und drohendem Machtverlust, vor allem aufgrund der vergleichsweise immer schlechter werdenden materiellen Versorgung der Bevölkerung: „Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bezirke nicht überall ihrer Verantwortung zur Versorgung der Bevölkerung gerecht werden. Ich denke nicht an Bananen, aber ich denke an Gemüse und andere Dinge des Grundbedarfs. […] Zum Schluss ist es so, dass Genosse Schalck13 das Notwendige am Jahresende heranfliegt, wenn wir uns nicht rechtzeitig darauf einstellen.14

Die Situation eskalierte bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem zwar der Unmut der Bevölkerung schon gewachsen war, aber die Einschätzung der Lage noch einigen wenigen vorbehalten schien: „Ich sage ganz offen, mit dieser Zahlungsbilanz gehen wir einen abschüssigen Weg. Wenn wir diesen Weg nicht stoppen, wird er nicht zu beherrschen sein. […] Es geht nicht darum, eine Woche oder einen Monat über die Runden zu kommen. Es geht darum, dass wir der Partei einen solchen Weg der abschüssigen Entwicklung nicht vorschlagen dürfen. Normalerweise […] darf man eine solche Vorlage überhaupt nicht in das Politbüro geben. […] Die ganze Welt spart, aber wir glauben, dass alles so weitergehen kann. […] Wir müssen davon ausgehen, dass man den Generalsekretär nicht von einem auf den anderen Tag mit diesen Fragen überraschen kann.15

Des Kaisers neue Kleider
—was wusste die Führungselite?

Die alles bestimmenden Nomenklaturkader wussten mehr, als die Bevölkerung vermutete, aber weniger, als sie hätten wissen müssen, um ein Land erfolgreich regieren zu können. Auch deshalb ging das Spektrum ihrer Reaktionen

von Verwunderung:

Ich sehe nach wie vor, dass ein großer Unterschied besteht zwischen dem Bauwesen in der BRD und in der DDR. Was dort mit 70 Mio. Mark gebaut wird, kostet bei uns bis zu 200 Millionen. Ich habe das untersucht: Die Baustoffe sind in der BRD teurer; die Löhne der Bauarbeiter sind in der BRD höher. […] Das heißt, irgendetwas ist faul. […] Niemand hat uns bis jetzt die Ursachen mitgeteilt.16

über Wunschdenken:

Genosse Briksa17: „Mit der vollständigen Sicherung der geplanten Warenfonds […] und den heute hier vorliegenden Vorschlägen kann ich die Versorgung der Bevölkerung 1987 sichern.E.H.: „Du meinst, du kriegst das alles?B.: „Ich muss das kriegen!18

und Hilflosigkeit:

Wenn ich die Exportbilanz sehe, dann komme ich ins Schwitzen. Wer nimmt uns die Verantwortung ab? Der neue L 60 ist immer noch nicht fertig, obwohl er schon seit Jahren beschlossen ist. Dem Generalsekretär haben sie zum Geburtstag einen Kassettenrecorder geschenkt, aber der ist immer noch nicht auf dem Markt. Wenn man schon dem Generalsekretär etwas schenkt, dann muss man sein Wort halten. Wir dürfen nicht glauben, dass darüber nicht diskutiert wird.19

bis zum Zorn:

Man muss den Dingen auf den Grund gehen. Das ist der Weg der Anarchie und nicht der Planwirtschaft. […] In der Republik gibt es bestimmte Stimmen, dass alles nach Berlin gegeben wird. Bei der Ankunft der Berliner Delegation im Leipziger Zentralstadion wurde gepfiffen. Das stand in keinem Bericht. Es besteht eine Kunst des Verschweigens vor dem Politbüro. Das ist unter aller Würde. […] Für eine Berlinfeindlichkeit gibt es überhaupt keine Grundlage. Genossen, die so diskutieren, wissen nicht, welchen harten Kampf die Imperialisten um Berlin führen, warum Reagan vor dem Brandenburger Tor auftrat.20

Winter 1986, Leipziger Hauptbahnhof
Der Ernstfall:
Winter 1986/87 am Leipziger Hauptbahnhof

Die Stunde der Wahrheit versuchte auch für die Genossinnen und Genossen des Politbüros zu schlagen. So wurde in einer Beratung bei Günter Mittag von einem „Buch der Wahrheit“ gesprochen: „Ich bin mit der Aufgabenstellung einverstanden, die Aufgaben nach Ministerien und Kombinaten so aufzuschlüsseln, damit wir ein sogenanntes Buch der Wahrheit haben.21 Dazu der Generalsekretär: „Jeder von uns hat eine bestimmte Meinung zu diesem Material, auch wenn wir keine Generaldebatte führen.22 Durchaus waren Funktionäre jedoch in der Lage, die Realität wahrzunehmen: „Wir haben eine Hauptaufgabe beschlossen und das Kernstück ist dabei der Wohnungsbau. […] In Leipzig haben wir aber Rückstände. Bei den Schulbauten und bei den Wohnungen sieht es aus, als wenn der zweite Weltkrieg erst vor 14 Tagen zu Ende gegangen wäre.23

Was tun?

Die Verantwortlichen der DDR schienen einerseits Gläubige, andererseits Perfektionisten zu sein. Sie glaubten an ihr System, deshalb musste es ausreichen, rein symptomatisch zu handeln. Und sie glaubten daran, dass alles, wenn es nur im Sinne der Gesetzmäßigkeiten des entwickelten gesellschaftlichen Systems richtig gemacht werden würde, doch funktionieren müsste: „Es gibt keine Gründe, dass die Dinge nicht so durchgeführt werden, wie das erforderlich ist. […] Wenn eine klare Konzeption vorhanden ist, kann man auch die gesellschaftlichen Kräfte richtig führen.24

Da sie nicht überall gleichzeitig sein konnten, schufen sie eine Struktur, die sie die Menschen noch im hintersten Winkel der Republik erreichen und bevormunden ließ: „Gemeinsam mit der Staatlichen Plankommission ist durch die Minister für Elektrotechnik und Elektronik und Schwermaschinen- und Anlagenbau innerhalb 8 Tagen dem Ministerrat zur Entscheidung vorzulegen, wie die Gussversorgung für das Kombinat Elektromaschinenbau Dresden noch im Jahre 1986 gelöst werden soll.25Genosse Klopfer, wer hat die Anweisung gegeben, dass die Kohle zur Beheizung der Personenzüge im Winter gestrichen wird? Das heißt, die Personenzüge sollen im Winter unbeheizt fahren?“ Klopfer: „Ich kenne das nicht, Genosse Honecker!E.H.: „Du arbeitest und kennst das nicht, und ich war im Urlaub und kenne das. Das darf in einem richtigen Apparat überhaupt nicht passieren.26

Um der lückenlosen Kontrolle willen war es erforderlich, dass die SED-Führung sich auch mit Detailfragen auseinandersetzte: „Gut gemacht wurde die Sache mit Kuba; die Frage der grünen und gelben Apfelsinen wurde im Politbüro diskutiert.27 Manche Sätze wirken wie die Äußerungen empörter Großeltern: „Bei uns gibt es hinsichtlich des Verbrauchs von Brennstoffen eine Einstellung, wonach man aus dem Vollen schöpfen könne. […] Es gibt z.Z. Häuserblöcke in Berlin, da herrscht morgens bereits eine Temperatur von 28°C.28

Erschreckenderweise zeigten sich der Apparat zunehmend desolat und einzelne Mitglieder desselben überfordert: „Dass es keine Kinderhosen gibt, ist doch ein Skandal. Das müssen doch die Minister für Leichtindustrie und Handel und Versorgung lösen. Monatelang wird schon darüber diskutiert. Wer soll denn darüber eine Entscheidung treffen? Hier appelliere ich, dass jeder seine Verantwortung wahrnimmt. […] Alles auf die Partei abzuschieben, das kann nicht wahr sein.29

Die Schuldfrage.
Alles hausgemacht?

Obwohl klar war, wie vorgegangen werden sollte, um die Probleme zu beseitigen, mussten Schuldige gefunden werden. „Nehmen wir die Fragen mit der Reichsbahn. Man kann sich drehen und wenden, wie man will. Es muss doch einen geben, der uns angeschmiert hat. […] Solche Probleme, wie die 7,2 Mrd. Mark Aufwand für das Auswechseln von Schwellen und Masten, werden uns an die Wand schleudern.30

Einige Personengruppen boten sich als interne Verursacher an, so z.B. die Kombinatsdirektoren: „Wenn wir diese Entwicklung einschätzen, muss man auch sagen, welche Kombinate im Jahre 1985 ihr Wort gehalten haben und welche nicht. Es muss eine Übereinstimmung von Wort und Tat geben. […] Man kann nicht mit den gleichen Ursachen und Dingen so weiterwursteln.31Zu den durchgeführten Rapporten wurden die Betriebsdirektoren hinzugezogen, die Störungen verursacht hatten. […] Probleme gibt es im Oberbekleidungswerk Lößnitz, wo der Generaldirektor ausgewechselt wurde.32

Dazu kamen diverse Mangelbedingungen, beispielsweise der Mangel an Rohstoffen oder an Arbeitskräften: „Wichtig ist die Frage der Ausnutzung der Arbeitszeit in diesem Jahr mit dem Ziel der Erfüllung des Planes bei gleichzeitig hoher Arbeitsdisziplin. Wenn die Arbeiter während der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr arbeiten müssen, müssen auch die Minister da sein. Wir werden also den Weihnachtsurlaub etwas verschieben müssen.33 Gründe für den Arbeitskräftemangel waren wieder und wieder verschobene bzw. gar nicht getätigte Investitionen und der entsprechend veraltete Bestand an Produktionsmitteln sowie z.B. die auf Grund der Amnestie vom Juli 1987 als Arbeitskräfte fehlenden Gefängnisinsassen.

Es wurde diskutiert, ob die Fragen und Probleme objektiver oder subjektiver Natur wären: „Für mich ist […] die Konzeption für den Aufbau einer PKW-Produktion in der DDR in der Größenordnung von 10 Mrd. Mark völlig unverständlich. Das haben wir nicht beschlossen und ich weiß nicht, wie man eine solche Größenordnung zusätzlich in den Plan hineinpressen kann. […] Ursprünglich war vorgesehen, einen Motor zu schaffen, um ihn in die bestehenden Wagen hineinzuhängen. Ich kann nicht beurteilen, ob das geht. Es wurde aber ernsthaft behauptet, dass man das kann. Jetzt bauen wir einen neuen PKW ohne Rücksicht auf die Kosten. Ist das ein objektives oder subjektives Problem? Das ist eine subjektive Angelegenheit. Wie kann man das Politbüro so hinters Licht führen? Wir haben doch den Wartburg und unsere Trabbis, deren Produktion man weiterführen kann.34

Zunehmend Sorgen bereiteten Unzulänglichkeiten der Importe aus dem RGW: „Wir müssen auf dem Außenhandelsgebiet konsequenter und energischer sein. Ich musste 5 Torpedoschiffe, die die UdSSR geliefert hat, aus dem Gefechtsdienst herauslösen. Ursache: An Wellen und Halterungen der Schiffsschrauben gibt es ernsthafte technische Mängel. Wir behandeln das Problem jetzt fast im 5. Monat auf den unterschiedlichsten Ebenen.35

In einer der Niederschriften finden sich indirekte Hinweise darauf, dass außerhalb des kleinen Landes etwas von der SED-Führung Unbeeinflussbares geschah: „Ich möchte darauf hinweisen, dass sich die internationale Situation weiter komplizieren wird.36Gestattet mir noch zu einem […] Problem zu sprechen, das mir Sorgen bereitet. Ich habe mir die Zahlungsbilanz angesehen. […] Dort wurde uns vorgelegt, dass der ‚Sockel‘ [die Verschuldung gegenüber der BRD – die Verfasser] bis 1995 halbiert wird. Jetzt tritt bis 1990 eine Erhöhung ein. Das widerspricht den Beschlüssen, abgesehen davon, dass ich den Standpunkt der Abteilung Planung und Finanzen in der Stellungnahme nicht verstehe, wo gesagt wird, dass die Lage ausweglos würde. Das kann doch nicht der Standpunkt einer Abteilung sein. Das kann man nicht nur mit objektiven Dingen begründen. Hat sich die Welt in der Zwischenzeit so sehr verändert?37

Schuldig im Sinne der Anklage war aber mit Sicherheit einer der Hauptfeinde des Sozialismus, ein strenger Winter: „Es liegen 60 elektrische Boschhämmer in der zentralen Reserve des Bauwesens. Diese Boschhämmer werden mit sofortiger Wirkung für die Kohle eingesetzt. […] Wir prüfen außerdem den weiteren Import von 1.000 Boschhämmern durch Genossen Schalck. Es geht bei dieser Frage um jede Stunde.38Wir müssen auch dafür sorgen, dass der nächste Winter anders aussieht. […] Bei der Kohle und Energie haben wir den Transportweg so abgesichert, dass praktisch an jeder Weiche ein Soldat steht. Es sind geschlossene Einheiten vorhanden, um Schienenbrüche und andere Dinge sofort zu reparieren.39Wenn die Österreicher uns nicht 1.000MW Elektroenergie geliefert hätten, wüsste ich nicht, was in der DDR passiert wäre.40

Foto zeigt Günter Mittag am Rednerpult
Der oberste Wirtschaftslenker der DDR:
Politbüro-Mitglied und ZK-Wirtschaftssekretär
Günter Mittag (November 1986)

Kritik wurde letztendlich von Günter Mittag verhindert, z.B. im Blick auf Probleme mit der Plandurchführung 1988: „Das wollen wir gar nicht erst einführen. Ein Philosophieren über Verschiebungen auf 1989 ist nicht zulässig. […] Planänderungen kommen überhaupt nicht in Frage.41Niemand braucht über die behandelten Dinge irgendwie zu erschrecken. Erschrecken muss man darüber, dass nicht gekämpft wird. Das heißt, dass die Probleme lösbar sind, wenn wir wollen. Man muss nicht in Panik geraten, wenn jeder mit der Gewissheit aus dem Raum geht, dass die Dinge lösbar sind.42

Eigenmächtige Entscheidungen wurden nicht geduldet:
Genosse Tautenhahn: „Was die Investitionen betrifft, haben wir gemeinsam mit dem Ministerium für Bauwesen eine gründliche Analyse durchgeführt und Maßnahmen festgelegt.
Genosse Mittag: „Ist eine Bestätigung dieser Maßnahmen, insbesondere der Verschiebungen, durch die Regierung erfolgt? Wir haben hier in 3 Sitzungen zu diesem Thema gesprochen. Niemand hat das Recht, Investitionen zu verschieben. […] Ich halte fest, dass die Verschiebungen der Investitionen ohne Bestätigung durch die Regierung vorgenommen wurde.43

Gerhard Schürer zitiert in seinem rückblickenden „Zeitzeugenbericht aus dem Zentrum der DDR–Wirtschaftslenkung“ zum Thema „Planwirtschaft“ ausgerechnet Immanuel Kant, der bereits 1783 darüber zu sagen wusste: „man fordert, was man selbst nicht leisten, tadelt, was man doch nicht besser machen kann, und vorschlägt, wovon man selbst nicht weiß, wo es zu finden ist.44


Annette Hildebrandt, Lothar Tautz