Annette Katharina Hildebrandt

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Eurokäppchen

— oder ein Spaziergang durch den europäischen Märchenwald

Vorwort

Liebe große und kleine Europäerinnen und Europäer!

Die Idee von einem Europa ist kein „Märchen“. Aber Europa hat Märchen.

Foto des Covers

Ich möchte Ihnen in dieser Broschüre Märchen aus den Ländern der Europäischen Union vorstellen, die zeigen, daß Europa eine alte gemeinsame Kultur mit langer Tradition hat. Neben der gemeinsamen Kultur hat jede Region, jedes Land aber auch seine Besonderheiten erhalten und entwickelt. Die europäischen Länder sind historisch so etwas wie Geschwister: Sie haben die gleichen „Eltern“ und entsprechende „Familienähnlichkeiten“, sind aber auch bestrebt, sich eigenständig zu entwickeln und zu unterscheiden – und das ist gut so.

Lassen Sie uns einmal auf märchenhafte Weise an den europäischen Gedanken herangehen – das kann uns auch im Alltag helfen, einmal mehr über unseren eigenen Tellerrand zu schauen.

Ulrich Stockmann (Herausgeber)

Nachwort

Sich gemeinsam unterscheiden

von Angelika Benedicta Hirsch

„Es war einmal…“ Rückwärts gewandte Romantik? Erinnerungen an „heile“ Kindheit? - Weder das eine noch das andere. Märchen gehören zum ältesten Kulturgut der Menschen. Sie sind als Menschengeschichten entstanden, nicht als Kindergeschichten. Sie spiegeln das Denken, Fühlen, Hoffen und Handeln, die Weltsicht längst vergangener Epochen. Märchen schauen die Welt und erzählen sie. Sie stellen in phantastischen Bildern dar, was alle Menschen bewegt; Leben und Tod, Gut und Böse, Erwachsenwerden, Gefahr, Angst und Zuversicht... Märchen sind nicht nur Unterhaltung, sie sind vor allem „dichterische Weltbewältigung“ (Max Lüthi). Sie entführen den Hörer in eine Traumwelt. Sie sind „unrealistisch“. Und doch weiß und fühlt man: Genauso ist das Leben, so ist es mir auch schon ergangen, so habe ich auch gekämpft, gefürchtet, so nahe war ich dem Tod und der Auferstehung. Drachen und wunderbare Helfer aus dem Nichts gibt es wirklich - Märchen sind wahr.

Alle Völker Europas besitzen einen reichen Schatz an überlieferten Märchen. Liest man in diesem europäischen Märchenschatz, dann fällt auf, daß man einerseits auf vollkommen fremde, überraschende, z. T. zunächst schwer verständliche Märchen stößt, daß einem andererseits aber auch immer wieder Märchen begegnen, die bekannt vorkommen. Das ist kein Zufall, und es handelt sich in vielen Fällen auch nicht einfach um Übertragungen in eine andere Sprache. Im 2. Jahrtausend vor Christus, in der sogenannten Mykenischen Zeit, gab es für einige Jahrhunderte eine einheitliche Kultur, die ganz Europa entscheidend geprägt hat. Indoeuropäische Gruppen waren aus dem nördlichen Schwarzmeergebiet in das alte Europa eingewanderte und hatten nach und nach die Vorherrschaft übernommen. Sie prägten Kultur, Sprache und Religion des neuen Europa. Bis auf wenige Ausnahmen, z.B. das Finnische und Baskische, sind heute ja alle Sprachen Europas „indoeuropäische“ Sprachen. Diese neue Kultur brachte auch Mythen, Sagen und Märchen mit, die eine typische indoeuropäische Struktur haben und sich deutlich von älteren europäischen Geschichten unterscheiden. Die neuen Erzählungen und Heldenerzählungen, in denen es um das Bestehen von Abenteuern, Kämpfen und Proben geht. Die Gesellschaft, die sich in diesen Geschichten spiegelt, ist deutlich patriarchal geprägt. Fast immer ziehen die Helden aus und vollbringen ihre Heldentaten in weiter Ferne. Sie benötigen „Helfer“ meist sind es überirdische, jenseitige, wie kleine Männchen, sprechende Tiere, Hexen u.ä. Auffällig ist auch die Dreierstruktur der Erzählungen. Drei Brüder oder Gefährten ziehen aus, dreimal probieren sie, eine bestimmte Tat zu verrichten etc. Dabei gelingt immer nur der letzte Versuch und immer ist es der letzte der Brüder oder Gefährten, der der Held ist. Oft bedeutet dieses auch, daß der Letzte der ist, der als Dümmster oder Verachtetster gilt. Frauen begegnen uns in diesen Märchen nie als Heldinnen. Sie sind höchstens Ziel und Preis der Abenteuer.

Natürlich haben sich die Märchen im Laufe der Jahrhunderte den immer neuen Gegebenheiten in manchem angepaßt. Manchmal wurden sie „christianisiert“, wenn z.B. der jenseitige Helfer ein Heiliger geworden ist (vgl. Spanien, Die Heilung des Kaisers), oder manchmal ist die Dreierstruktur nur noch undeutlich zu erkennen (vgl. Finnland, Die drei verschwundenen Königstöchter). Trotzdem sind die Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen.

Das jeweils erste Märchen eines Landes in dieser Broschüre ist eines mit solcher gemeinsamen indoeuropäischen Struktur.

Daneben gibt es Märchen, die entweder älter als die indoeuropäischen Märchen sind oder auch Märchen, die entstanden sind, nachdem sich die gemeinsame indoeuropäische Kultur in verschiedene Gruppen (Romanen, Germanen, Kelten, Slawen) mit je eigener Kultur und Entwicklung aufgespalten hatte. Die älteren Märchen sind oft Erzählungen, in denen Frauen eine besondere Rolle spielen. Wir können annehmen, daß sie aus einer Zeit stammen, in der Frauen in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt haben (vgl. Österreich, Die drei Raben oder Finnland, Die böse Hexe und die Schwester von neun Brüdern). Sie geben Zeugnis von der Kultur des alten Europa, die zwar von den Indoeuropäern überlagert, aber nicht ausgerottet wurde. Da wir aus dieser Zeit nur archäologisches Material und keine schriftlichen Aufzeichnungen besitzen, sind die mündlich überlieferten Märchen besonders wertvoll. Trotz mancher Veränderungen lassen sie manches von der voriindoeuropäischen Kultur erahnen.

Jüngere Märchen haben oft Sagencharakter (vgl. Irland, Der große Rote) oder sind auch sogenannte Warn- und Schreckmärchen wie das berühmte Rotkäppchen (vgl. Frankreich, Das kleine Rotkäppchen).

Das jeweils zweite Märchen eines Landes in dieser Broschüre ist entweder älter oder jünger als die indoeuropäischen Heldenmärchen. In ihnen zeigt sich mehr von den Besonderheiten, dem Eigenen des Landes oder einer Region, von der Bindung an sehr altes Erbe oder von der Entwicklung von eigenem Neuen.

Natürlich sind zwei Märchen pro Land viel zu wenig, um einen wirklich repräsentativen Überblick zu geben. Viele Länder sind noch einmal unterteilt in Regionen mit einer spezifischen Kultur und Überlieferung, die unbedingt eine Dokumentation verdient hätte. Das kann diese Broschüre nicht leisten. Sie kann und will aber „Geschmack“ an Europa wecken: Geschmack an dem gemeinsamen fast 400jährigen Kulturgut und Geschmack an der noch darunter oder darüberliegenden eigenen, besonderen, unterscheidenden Überlieferung.

Über das Buch

Idee und Gesamtredaktion: Annette Hildebrandt.

Märchenauswahl und Redaktion: Dr. Angelika-Benedicta Hirsch

Herausgeber: Ulrich Stockmann, Mitglied des Europ. Parlaments Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas

Restexemplare des Buches mit 116 Seiten kann bei Annette Hildebrandt bei Bezahlung der Versandkosten bestellt werden.